28. Oktober 2025
Article Series
Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein: Gleiche oder gleichwertige Arbeit muss geschlechtsunabhängig gleich vergütet werden, es sei denn, dass objektive Gründe die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Doch was einfach klingt, bereitet der Praxis große Probleme. Wann ist eine Tätigkeit gleichwertig? Wie weise ich als Unternehmen objektive Gründe für eine unterschiedliche Behandlung rechtssicher nach?
Ein neues Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts hat für vielfältige Presseberichtserstattung gesorgt; zurecht, denn das Urteil birgt Sprengkraft. Kurz gesagt: es droht eine Gehaltsspirale nach oben! Welche Rückschlüsse lassen sich aus der neusten Entscheidung ziehen?
Pointiert entschied das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 23. Oktober 2025, 8 AZR 300/24): Wer im Vergleich zu den Kollegen des anderen Geschlechts bei gleicher oder gleichwertiger Tätigkeit weniger verdient, muss sich grundsätzlich nicht mit einem Mittelwert begnügen. Vielmehr kann man das Gehalt des konkret zu benennenden Spitzenverdieners der Vergleichsgruppe heranziehen. Ein Paarvergleich reicht für die Vermutung einer Diskriminierung aus.
Die Klägerin war in der mittleren Führungsebene der Daimler Truck AG beschäftigt. Sie klagte auf den Differenzbetrag zum Höchstverdienst eines männlichen Kollegen. Die Arbeitgeberanwältin verteidigte sich mit dem Argument der mangelnden Vergleichsbarkeit der Tätigkeiten. Außerdem verdiene die Klägerin auch weniger als ihre weiblichen Kolleginnen; dies zeige, dass die Gehaltsunterschiede in der Leistung begründet seien und keineswegs im Geschlecht. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg als Vorinstanz (unsere Besprechung dazu finden Sie hier) urteilte insoweit noch arbeitgeberfreundlich: eine Vermutung für eine Geschlechterdiskriminierung könne sich jedenfalls nicht aus dem Gehaltsunterschied zum männlichen Spitzenverdiener ergeben, sondern allenfalls aus einer Diskrepanz zwischen dem Mediangehalt der männlichen und weiblichen Kolleg*innen. Im Ergebnis hatte das Landesarbeitsgericht entsprechend einen Anspruch auf die Differenz zwischen dem Medianentgelt der weiblichen und der männlichen Vergleichsgruppe zugesprochen - rund 130.000 Euro.
Das Bundesarbeitsgericht macht nun den Weg auch auf die Differenz zur höchsten Vergütungsstufe frei. Die vom Landesarbeitsgericht verwendete Argumentation mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, welche für oder gegen eine Diskriminierung sprechen, ist europarechtlich nicht zulässig. Für die Vermutung einer Diskriminierung könne nicht nur auf den Median abgestellt werden; es reicht vielmehr aus, dass die Arbeitnehmerin darlegt (und beweist), dass ein einziger männlicher Kollege mit gleicher oder gleichwertiger Arbeit mehr Entgelt erhält. Der sogenannte Paarvergleich reiche aus.
Dies bedeutet nicht weniger als: Grünes Licht für das „Race to the Top“: Ohne valide Rechtfertigung besteht bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit der Anspruch auf die Höchstvergütung, wenn nur ein einziger Arbeitnehmer des anderen Geschlechts besser verdient. Kann der Arbeitgeber (wie oft der Fall) nicht widerlegen, dass er objektive Gründe für die geringere Vergütung hat, wird er die Vergütung der geringer verdienenden Frau (oder eben: des geringer verdienenden Mannes) an das Gehalt des Spitzenverdieners des anderen Geschlechts anpassen müssen. Dies ist aber noch nicht das Ende: Ebenjene „nach oben korrigierte“ Person könnte sogleich ein neuer Referenzpunkt im Sinne eines Paarvergleichs für eine geringer verdienende Person des anderen Geschlechts werden – eine sich selbst verstärkende Gehaltsspirale nach oben droht!
Die Thematik wird noch brisanter, wenn man das Haftungspotential wegen nicht abgeführter Sozialabgaben und Lohnsteuer betrachtet, insbesondere angesichts der bereinigten Lohnlücke von rund 6 %.
Gewonnen hat die Klägerin noch nicht. Das Bundesarbeitsgericht hat (überraschend) an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Die Vorinstanz muss klären, ob die von dem Arbeitgeber vorgetragene Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zulässig ist. Dass das Entgeltsystem des Arbeitgebers intransparent ist, wie das Gericht hervorhob, dürfte die Rechtfertigung erschweren. Allerdings ist ein intransparentes System für sich noch kein Grund, darin bereits stets eine Ungleichbehandlung zu sehen. Auch die Klägerin muss weiter vortragen: Nicht ausreichend ist die bloße Behauptung der Klägerin, auch Anspruch auf ein Aktienpaket zu haben, ohne den konkreten Vergleichsmitarbeiter zu benennen. Gerade bei variabler Vergütung (Short-/Long-Term-Incentives) dürfte viel Haftungspotential liegen, zumal oft die Zuteilungs- und Bewertungskriterien diskriminierungsrechtlich unklar sind.
Die Entscheidung senkt die Anforderungen für Folgeklagen, soweit Arbeitnehmer vortragen können, dass der Vergleichsmitarbeiter des anderen Geschlechts bei gleicher oder gleichwertiger Tätigkeit mehr Lohn erhält. Gleichzeitig rücken die Anforderungen an das Vergütungssystem in den Fokus. Arbeitgeber sollten ein Vergütungssystem mit klaren und berechenbaren Kriterien aufsetzen. Objektive Kriterien für Vergütungsunterschiede (wie beispielsweise Berufserfahrung oder Qualifikation) müssen auch einen tatsächlichen Bezug zur Tätigkeit haben und ihrerseits nichtdiskriminierend angewendet werden.
Allgemein dürften Vergütungsbänder, die Arbeitgebern einen hohen Spielraum bei der Gehaltsfindung einräumen, weiterhin ein hohes Haftungspotential für Unternehmen darstellen, wenn sie sich nicht auch an der Höchstvergütungseinordnung orientieren oder unklare Kategorien haben. Arbeitgeber sollten daher Kollektivvereinbarungen wie insbesondere Betriebsvereinbarungen überprüfen. Ein Gesamtlohnvergleich ist unzulässig. Jeder Gehaltsbestandteil muss einzeln betrachtet werden.
Ein Absicherungsansatz aus Compliance-Sicht kann eine Equal Pay Auditierung sein, die auch und gerade bei Leiharbeitereinsatz wegen zusätzlicher Haftung ratsam ist.
Das Thema Entgelttransparenz bleibt eines der aktuellsten HR-Themen des Jahres. Durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts droht eine unkontrollierte Gehaltsspirale nach oben. Hinzu verbleiben Unsicherheiten, wie der Gesetzgeber die Entgelttransparenzrichtlinie umsetzt. Praktisch dürfte das Thema angesichts der Presseaufmerksamkeit in Unternehmen für Gesprächsstoff an der Kaffeemaschine sorgen. Gehaltsungleichheiten sind ein Hauptgrund für schlechte Stimmungen am Arbeitsplatz und Kündigungsgrund Nummer 1. Spätestens seit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gilt: eine sorgfältige Analyse der Gehaltsstrukturen ist ein MUSS, aus rechtlicher und unternehmenspolitischer Sicht!
Umsetzung der EU Pay Transparency Directive
Wie steht es um die Umsetzung der neuen EU-Gesetzgebung zu Entgelttransparenz? Hier finden Sie eine europaweite Übersicht.
Zum Equal Pay Tracker28. Oktober 2025
von mehreren Autoren
8. Oktober 2025
11. September 2025
26. August 2025
von Sarah Spiecker
11. August 2025
von Antonia Mehl
1. Juli 2025
von Nico Jänicke
21. Mai 2025
24. April 2025
11. April 2025
21. März 2025
von Nico Jänicke
28. Februar 2025
von Lea Krebs, Sachka Stefanova-Behlert, LL.M. (UC Berkeley)
11. Februar 2025
von Lucas Corleis
9. Dezember 2024
von Viviana Schwarm
Ein Überblick über den aktuellen Referentenentwurf des Beschäftigtendatenschutzgesetzes (BeschDG)
23. Oktober 2024
8. Oktober 2024
von Sabrina Dettmer
30. September 2024
27. August 2024
von Antonia Mehl
14. August 2024
6. August 2024
von mehreren Autoren
19. Juni 2024
von Vanessa Talayman
24. April 2024
12. März 2024
Ein Jahr nach dem wegweisenden BAG-Urteil
7. März 2024
1. Februar 2024
26. Januar 2024
18. Januar 2024
von Annika Rahn
27. November 2023
8. November 2023
25. Oktober 2023
von Isabel Bäumer
18. September 2023
4. September 2023
20. November 2023
17. August 2023
26. Juli 2023
12. Juli 2023
Das Bundesarbeitsgericht hat sich erneut mit dem sehr praxisrelevanten Thema des Annahmeverzugs befasst. Das Urteil fiel zugunsten des Arbeitnehmers aus.
30. Mai 2023
von Laura Hannig
Die gängigen Fragestellungen zur Gewährung der Inflationsausgleichsprämie beantwortet.
19. Mai 2023
Am 31. Januar 2023 ist das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitendem Formwechsel und grenzüberschreitender Spaltung in Kraft getreten.
5. Mai 2023
Der Gesetzesentwurf des BMAS zur Arbeitszeiterfassung ist veröffentlicht. Wir beantworten erste Fragen.
25. April 2023
von mehreren Autoren
Es reicht nicht aus, dass der Unterzeichner intern zum Ausspruch der Kündigung bevollmächtigt ist. Der Gekündigte sollte hiervon auch in Kenntnis gesetzt werden.
18. April 2023
Beim Unterschreiben ist Vorsicht geboten: Nicht jedes „Gekritzel“ ist eine Unterschrift im Sinne des Gesetzes. Werden hier Fehler gemacht, droht die Unwirksamkeit der Kündigung.
6. April 2023
Arbeitgeber sollten frühzeitig Maßnahmen ergriffen, wenn es durch die Nutzung von ChatGPT zu arbeitsvertraglichen Pflichtverletzungen kommt.
22. März 2023
von Christina Poth, LL.M. (Edinburgh), Dr. Benedikt Kohn, CIPP/E
Kein Verstoß gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG, solange ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung vorliegt.
9. März 2023
Eine Frau hat Anspruch auf dasselbe Entgelt wie ihr männlicher Kollege – auch wenn dieser sein Gehalt geschickter verhandelt hat.
3. März 2023
von Annika Rahn
Die arbeitsvertragliche Nebenpflicht zur Rücksichtnahme endet für den Arbeitnehmer nach höchstrichterlicher Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht per se mit dem Ende der Arbeitszeit.
26. Januar 2023
Das Annahmeverzugslohnrisiko für Arbeitgeber sinkt damit deutlich. Dies stärkt insbesondere die Verhandlungsposition der Arbeitgeberseite im Rahmen von Vergleichsgesprächen.
20. Januar 2023
Der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers unterliegt nicht der Verjährung, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht nachkommen ist.
22. Dezember 2022
von Yasmin Miriam Rösener und Prof. Dr. Michael Johannes Pils